Dieser Tage wird Celonis als erstes deutsches Decacorn gefeiert. Ein Decacorn ist ein Start-Up das nicht nur mit einer lächerlichen Milliarde (ein Unicorn), sondern mit stattlichen 10 Milliarden Dollar bewertet wird. Nun kann man gegenüber solchen Bewertungen durch Risikokapitalgeber, die panisch nach Anlagemöglichkeiten suchen, eine gewisse Grundskepsis entwickeln. Jedenfalls lohnt es sich einen Blick auf das Geschäft von Celonis zu werfen, das natürlich nicht nur nur in einer „Phantasie“ besteht. Celonis verspricht mit seiner Unternehmenssoftware zur Optimierung von Unternehmensprozessen – Process Mining – substantielle Kosteneinsparungen. Offenbar ist dieses Versprechen keineswegs ein Leeres, die Referenzlisten sind beeindruckend, von Siemens bis AT&T. Verwunderlicher ist eher, dass es in den großen Firmen, welche die Referenzliste bevölkern, immer noch so viel Einsparungspotential zu heben gibt. Laut FAZ (4.6.21, auch in einer eigenen Unternehmenspräsentation zu finden) hatte offenbar die Deutsche Telekom durch die Software 66 (oder doch nur 63?) Millionen Euro „dadurch eingespart, dass Doppelzahlungen für eingekaufte Leistungen vermieden und durch das pünktliche Begleichen von Rechnungen die Skonti erhöht werden konnten“. Doppelzahlungen? Skonti? Hallo? Wird hier ein Einäugiger zum Decacorn, weil er noch so viele Blinde findet? Neben Celonis profitieren weitere solche Prozessoptimierer: UiPath, mit 29 Milliarden Dollar bewertet, und das Berliner Start-Up Signavio wurde im März von SAP um angebliche 1.2 Milliarden Dollar aufgekauft.
Haben all die effizienzorientieren Management-Konzepte der letzten Jahrzehnte mit ihren Buzzwords von Lean Management, Business Process Management, Total Quality Management bis zu den Agilen Projekten so viele Lücken gelassen, dass die Unicorns und Decacorns noch so saftige Weiden zum Abgrasen finden. Daran allein kann es wohl nicht liegen. Vielmehr, es kam, wie es immer kommt. Die genannten Konzepte versprachen alle unglaubliche Effizienzgewinne und zum Teil lösten sie dieses Versprechen auch ein – lokal. Die Lösungen setzen immer bei einzelnen Prozessen an und – vor allem – wurden mit jeweils einer zusätzlichen Unternehmenssoftware unterstützt. In größeren Unternehmen benutzen Mitarbeiterinnen um die 200 verschiedene Computer-Systeme, Programme, oder „Apps“, viele davon regelmäßig: Textverarbeitung, Tabellenkalkulation, E-Mail, drei Chatprogramme, drei Workflow-Management-Systeme, ein ERP-System mit drei Untermodulen, eine Kollaborationsplattform mit angeschlossenem Projektmanagement, Zeitmanagement, eine Mitarbeiter-Plattform mit Gehaltsabrechnung und Gutschein-System, eine App für die Kantine und so weiter. Eine babylonische Sprachverwirrung, verursacht auch durch jene Branche, die sich nun als Retterin aufschwingt, „der heilige Geist“ der mit Engelszungen spricht.
Gerade die IT in Unternehmen aller Größen steht immer wieder vor dieser Entscheidung: Entweder lokale Anpassung der Systeme, Ergänzung durch das 201. Subsystem und Auffangen von Unzulänglichkeiten durch „Work Arounds“ (zum Beispiel: jede Mitarbeiterin bastelt sich ihr eigenes Excel-Sheet mit den Daten aus der zentralen Datenbank, Cobol-Programmierer werden aus der Pension geholt), oder: eine völlig neu programmierte Komplett-Lösung. Letzteres passiert praktisch nie, die Pfadabhängigkeiten und damit verbundene Komplexität sind zu groß. Dies gilt vor allem für Unternehmen, die sich in einer auf Kontinuität basierenden Wettbewerbsarena befinden, in unserem Modell die „Besteher“ und die „Netzwerker“. Wer jedoch im Wettbewerbsumfeld auf die Ausübung Strategischer Wahl setzt, der sollte auch seine internen Prozesse entkoppeln. Im Creating Competitiveness Framework sind dies die „Dominierer“ und „Antreiber“. Das völlige Neu-Aufsetzen interner Prozesse und der dazugehörigen IT gehört immer wieder dazu. Modularität hilft bei Entkopplung und wirkt der babylonischen Sprachverwirrung entgegen.
Johannes M. Lehner
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